Unter Büchern

Unter Büchern

Donnerstag, 22. November 2018

Amor Towles: Ein Gentleman in Moskau

Graf Rostov ist ein im besten Sinn altmodischer Gentleman. Er ist gebildet, er hat Stil, er ist – natürlich! – sehr wohlerzogen. Und da er dank seiner Erziehung und seiner Herkunft fürs Leben als Humanist bestens ausgerüstet ist, trägt er sein Schicksal mit Grandezza: Er wir nach der russischen Revolution verhaftet – angeblich, weil er ein unliebsames Gedicht verfasst hat, in Wirklichkeit, weil er adlig ist.
Er wird zu lebenslanger Haft verurteilt, aber nicht im Gefängnis, sondern im ersten Hotel Moskaus, im „Metropol“.
Früher war er dort Gast, wohnte in  seiner Suite. In der standen  Möbel aus Gut Weile, wo er aufgewachsen war.
Jetzt muß er die Suite  - mit Blick aufs geliebte Bolschoi-Theater – räumen und umziehen in die neun Quadratmeter kleine Dachkammer, die ihm zugewiesen wird. Sie erinnert an eine Mönchszelle, war ursprünglich für das Dienstpersonal der Hotelgäste gedacht. Das Fenster in der Gaube hat die Größe eines Schachbretts...
Graf Rostov entdeckt aber, daß es hinter der Wand seines Kleiderschranks einen weiteren Raum gibt. Er entrümpelt ihn und macht ihn zu seinem Studierzimmer, wo er mit Vorliebe in den „Essais“ von Montaigne liest.
Er scheint so sehr in sich zu ruhen, daß er nie hadert, nie schlechte Laune hat, immer höflich und freundlich ist zu den Angestellten des Hotels  – kurz: er ist und bleibt ein Gentleman. Obwohl er nur noch eine Innenwelt und keine Außenwelt mehr hat: er hadert nicht, er geht mit Optimismus und Leichtigkeit durch seine klein gewordene Welt. Ob er einmal die Woche zum Friseur des Hotels geht oder zum abendlichen Diner ins Restaurant, ob er in der Bar noch einen Schlummertrunk nimmt oder sich in der Nähstube zeigen lässt, wie man Knöpfe annäht: er ist überall beliebt und wird mit dem gleichen Respekt behandelt, den er den anderen entgegenbringt.
Und dann taucht Nina auf. Nina ist neun Jahre alt und höchst wissbegierig. Im Grafen findet sie den Menschen, der in ihrer Entwicklung eine große Rolle spielen wird...
Die Tischgespräche zwischen den beiden sind hinreißend, sowohl der Graf als auch wir Leser sind vernarrt in dieses Mädchen, das kluge Fragen stellt und  die Antworten zu bedenken weiß.
Aber Nina wird größer und muß das Hotel eines Tages verlassen. Im ehemaligen Ballsaal konferieren inzwischen eifrige Kommunisten. Der neue Hoteldirektor ist ein fieser Typ, der sich aus kleinsten Verhältnissen hochintrigiert hat. Deshalb ordnet er an, daß der Graf, der ihm ein Dorn im Auge ist, ab sofort als Oberkellner zu arbeiten hat. Auch nach dieser weiteren Degradierung bleibt Graf Rostov höflich und zuvorkommend. Auch diese Volte trägt er mit Grandezza.Und seine Kollegen sind froh, daß sie ihn haben; denn er weiß die prekärsten Situationen im Speisesaal diskret und souverän zu meistern.
Wir begleiten  den Grafen durch die Jahrzehnte. Ein toller Trick des Autors: wir erleben dabei auch  die Geschichte Russlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – aber, wie unser Held,   immer nur durch die Fenster des Hotels (oder durch die Drehtür, die noch eine wichtige Rolle in dem Roman spielen wird!).
Und dann wird es richtig spannend. Nina taucht wieder auf. Und bittet ihren gräflichen Freund um einen folgenreichen Gefallen.
Mich hat das Buch (558 Seiten!) tagelang gefesselt. Und ich fühlte mich regelrecht verwaist, als es zu Ende war. Es ist intelligent erzählt, es hat Humor und Wärme. Es hat – das bestätigen alle, die es gelesen haben - in der ersten Hälfte einen „Hänger“, aber bitte: haltet durch! Ihr werdet mit einer Geschichte belohnt, die Ihr nicht mehr vergesst.
Seinen   Erfolg verdankt das Buch den begeisterten Leser-Empfehlungen. Das Hochfeuilleton hat von ihm keine Kenntnis genommen/nehmen wollen. Aber das macht nichts.
Es ist ein Juwel im Bücherschrank.

Copyright: Cornelia Conrad



Freitag, 23. Februar 2018

Andrei Makine: Die Liebe am Fluß Amur

Drei pubertiertende Jungs, die nichts kennen als abgearbeitete, bis zur Unkenntlichkeit vermummte Frauen ohne Weiblichkeit; als derbe Holzlasterfahrer, die es diesen Frauen "machen“: es gibt in ihrem Mikrokosmos kein Wort für Liebe – und also auch keine Vorstellung davon.
Es ist ein perspektivloses Leben, das Mitja, Utkin und Samurai leben; ohne Plan, ohne Zukunft außer der, später, wenn sie erwachsen sein werden, auch Holzlaster zu fahren, zu saufen, es einer Frau „zu machen“. Ganz bestimmt nicht: zu träumen. Denn ihre Welt ist so klein und eng, daß sie gar nicht wissen, daß es Träume gibt – oder wovon sie womöglich träumen könnten.
Sie leben in einem gottverlassenenen Nest in der tiefsten Taiga. Die Winter dauern neun Monate lang, der Schnee liegt so tief, daß er die Häuser unter sich begräbt. Die Menschen sind müde und ohne Liebe, das Überleben fordert alle Kraft.
Da, oh Wunder, wird im Kino der nächsten Stadt ein Film mit Belmondo gezeigt. Sie können es nicht fassen. Ist das ein Versehen der Kommunisten in Moskau? Die drei Feunde stapfen acht Stunden lang durch den Schnee, um ihn sich anzuschauen. Es ist ihre erste Begegnung mit dem Westen – und sie sind sofort erregt und gleichzeitig fassungslos: es gibt eine Welt außerhalb der ihren! Und was für eine! Sie sehen bezaubernde Städte – Venedig! -, sie sehen erotische Frauen – aber vor allem erleben sie den Schauspieler Belmondo, den Haudegen, den kraftvollen Kämpfer und Verführer.
Und plötzlich öffnet sich durch diesen Film ein Fenster, von dem sie gar nicht wußten, daß es das gibt. Ein Fenster, durch das sie sehen, erleben können, was alles möglich sein kann.
Sie gehen in jede Vorstellung, achtzehn Mal, sie lernen den Film auswendig, sie diskutieren über ihren Helden, sie entdecken bei jedem Schauen neue Winzigkeiten, die sie lange beschäftigen. Ihnen ist, als ob Belomondo ihr Korsett der Enge sprengen würde.
Die Beschreibung ihrer Nachtwanderungen durch die Taiga sind von einer  solchen Intensität, daß wir meinen, es selbst zu erleben: das Knacken der Bäume unter der Schneelast, die Flocken, die beim Taumeln vom Mond beschienen werden, als ob sie aus Silber wären, die große Stille, die  Weite ohne Ende.
Die drei Freunde verändert der Film, ohne daß sie es merken. Es ist ihre Identifikationsfigur Belmondo, der sie ganz allmählich mögliche Wege aus ihrer inneren und äußeren Enge ahnen läßt.
Er weckt in ihnen Mut, sie selbst zu sein. Zu werden. Zu handeln. Träume zu haben.
Und er zeigt ihnen, daß die Liebe nicht nur  freudloses Gerammel ist, sondern Prickeln und Flirren und Schmerz und Sehnsucht.
Das ist ein ganz wunderbares Buch. Ich mußte es sehr langsam lesen, denn die Sprache Makines ist so eindringlich, so voller Poesie, daß man nicht schnell lesen kann – man würde sich den Genuß stehlen, in den Bildern zu versinken, die der große sibirische Erzähler Makine (der übrigens schon lange in seinem  Sehnsuchtsland Frankreich lebt und auf Französisch schreibt) mit seinen Worten zaubert.


Copyright: Cornelia Conrad


Freitag, 19. Januar 2018

Maeve Brennan: Der Teppich mit den großen pinkfarbenen Rosen

Copyright: Cornelia Conrad
Der Anfang ist wie ein Standbild aus einem alten Schwarzweiß-Film: Wir sehen eine stille schöne Frau, Mrs. Bagot, die in ihrem Vorgarten Rosen  schneidet. Ein Hund liegt dösend an den Stufen zur Küchentür und beobachtet sie. Auf dem Rasen ist eine Decke ausgebreitet, darauf spielen Mrs. Bagots kleine
Töchter, Lily und Margaret.
Mrs. Bagot und ihre Familie wohnen in einem Dubliner Vorort. Das  Reihenhaus ist klein, es hat  vier Zimmer, steht in einer Sackgasse, Geschäfte (das Leben!) sind  erst auf der Hauptstraße um die Ecke.
Die Autorin läßt sich viel Zeit, den Ort der Handlung zu beschreiben. Und sie ist dabei so genau und detailliert, so atmosphärisch,  daß wir schnell ahnen: es müssen die 1950er Jahre sein.

Aber eigentlich gibt es in dem Buch keine richtige durchlaufende Handlung. Es sind acht Erzählungen, jeweils kleine Episoden aus Mrs. Bagots Leben.
In der ersten Erzählung erfahren wir, daß die Blumen, die Mrs. Bagot schneidet, für ihren Mann Martin sind. Sie will damit sein Zimmer verschönern. Denn Martin hat sich allmählich immer mehr aus dem Familienleben zurückgezogen und schläft mittlerweile in einer eigenen Kammer. Er muß ein seltsamer Mensch sein, der nur arbeitet, der keine Tiere im Haus will, der sich schnell gestört fühlt.