Unter Büchern

Unter Büchern

Donnerstag, 28. Mai 2015

Dörte Hansen: Altes Land


Copyright: Cornelia Conrad
Ich war sehr skeptisch. Ein Buch, das so gelobt wird, das mir bei Wittwer in Stuttgart wärmstens
empfohlen worden war – es könnte ein Reinfall sein.
So wie Stephan Thomes "Grenzgang", den ich sterbenslangweilig und grottenschlecht fand.
 ABER: ICH BIN HINGERISSEN! So ein wunderbar komponierter, stimmiger Roman! Und die fast neidisch machende Sprache, Bilder von lyrischer Originalität ("Die Wolken zogen ostwärts, als hätten sie Termine")...
Worum es geht?
 Hildegard von Kamcke, ostpreußischer Landadel, strandet am Ende des Kriegs mit Tochter Vera im Alten Land, dem Obstbaugebiet südlich von Hamburg. Bei einer harten Frau, Ida, der die "hergelaufenen Polacken" zuwider sind. Hildegard ist zäh, läßt sich nicht unterkriegen, heiratet den Sohn von Ida. Irgendwann haut sie ab, verläßt ihre Tochter Vera, ihren Mann, den Kriegskrüppel mit dem lahmen Bein und den Albträumen, und zieht mit einem "Bessergestellten"in die Zivilisation Hamburgs, und kriegt noch ein Kind. Marlene.
Jetzt ist Vera alt. Lebt einsam in dem heruntergekommenen riesigen Haus.

Hat außer Heinrich Lührs keine sozialen Kontakte. Keine Familie. Will das alles auch nicht. Ist verkrustet. Und kann nachts nicht schlafen, nie, denn da kommen die bösen Bilder der Flucht.
Eines Tages steht Anne mit ihrem kleinen Sohn Leon vor Veras Tür. Anne ist Marlenes Tochter und also Veras Nichte. Deshalb kann Vera sie auch nicht wieder fortschicken, obwohl sie das gerne täte.
 Anne, nur in Briefen geliebt von ihrer Mutter, flüchtet aus Hamburg-Ottensen: ihr Bespaßungsjob in einer Nobel-Musikschule für Nobel-Kinder macht ihr keine Freude mehr. Sie findet die Anbetung der kleinen Götzen deplaziert, sie findet es deplaziert, wie ihr Chef sich übertrieben anbiedert an seine junge potente Klientel – und sie findet ihren Mann mit einer Andern im Bett.
Was soll sie in diesem Leben noch.
Auch Anne ist einsam. Auch Anne hat keine wirklichen sozialen Kontakte. Und auch Annes Kruste ist ziemlich dick.

Dörte Hansen erzählt in knappen, lakonischen Episoden von der langsamen Annäherung der beiden Frauen. Und sie erzählt, offensichtlich mit sehr viel Lust, von den Bauern im Alten Land. Von Heinrich Lührs (der alles akkurat schneiden muß) und von Dirk zum Felde, dem Bruddler (der seine Äpfel mit Pestiziden benebelt): "Halbgötter mit Harken und Baumscheren". Von Burkhard Weißwerth, dem Stadtflüchter (weil er als Journalist nicht so anerkannt war, wie er sich das vorstellte), und seiner Frau Eva (die aus alten Apfelsorten in ihrer Marmeladen-Manufaktur Bio-Marmelade kocht), die beide mit einer unglaublichen Hybris meinen, die einzig wirklich intelligenten, bewußt lebenden Menschen in diesem Dorf zu sein (man könnte meinen, sie heißen Moor). Hansen läßt alle ihre Figuren im Verlauf der Geschichte dazulernen, sich verändern, ihre Panzer aufbrechen. Für die meisten ist das eine Erweiterung ihrer Innenwelt, nur für den armen Dirk nicht: er beerdigt frustriert seine hochfliegenden Pläne von der Hochglanzromantik-Zeitschrift "Land und Lecker" (weil die im Dorf alle Idioten sind und sein Genie verkennen). Ganz beiläufig räumt die Autorin durch ihre realistischen Schilderungen des Bauern-Alltags mit der Verklärung der Städter auf, Landleben sei so romantisch: als Burkhard Weißwerth für eine Reportage seines neuen Hochglanzhefts Vera beim Wurstmachen zusieht, wird ihm schlecht – so viel Blut, so viel Martialisches, Grobes. So viel Naturalismus. Das kann man den Lesern von "Land und Lecker" nicht zumuten.

Ein großartiger, eindrucksvoller Roman – ich mußte mich zügeln, ihn nicht in einer Nacht zu Ende zu lesen. Lieber in kleinen Etappen, denn so konnte ich länger in dem Dorf im Alten Land leben. (Einziger Wermutstropfen: das Buch gibts bisher nur gebunden.)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen