Unter Büchern

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Donnerstag, 26. Februar 2015

Ralf Rothmann: Milch und Kohle

Das ist  eines der Bücher, von deren Atmosphäre ich so eingefangen war, daß ich es kurz hintereinander zweimal las. Und ich möchte Euch heute einladen, auffordern, bitten, den wunderbaren Erzähler Ralf Rothmann kennenzulernen. Er nimmt uns hinein in den Mikrokosmos einer Familie:
Simon kommt aus Amerika heim in den Ruhrpott, wo seine Mutter im Sterben liegt.
"Wir hatten ja auch gute Jahre", beschwört sie ihn und sich am Ende ihres Lebens.

Und Simon begibt sich auf Erinnerungsreise in diese Jahre - die so gar nicht "gut" waren. Er erinnert sich an seine Kindheit und Jugend in den 60er Jahren. An den Vater: Müde. "Entzündet die Lidränder, festgewachsen dort der Kohlenstaub, er hatte immer Augen wie geschminkt".
An seinen Bruder Traska, der Epileptiker war - was "seelisch" sei, wie der Arzt meinte.
An seinen Freund Pavel, der in seiner halbstarken Hilflosigkeit voller Zorn und Trauer an James Dean erinnert.
Und vor allem an seine Mutter, eine resignierte Frau, illusionslos, erschöpft, gehärtet vom Leben.  Sie saugt an ihren vielen Zigaretten, als ob aus ihnen das Leben in sie strömen könnte. Aber so war sie nicht immer. Es gibt ein Jugendbild von ihr, auf dem sie strahlend lächelt.
In die Trostlosigkeit des Familienalltags hinein platzen zwei Arbeitskollegen des Vaters: Gino und Camillo. Der Vater hat die beiden eingeladen, weil sie so einsam sind. Sie bringen lauter unbekannte Lebensmittel mit und kochen italienisch! Benutzen Kräuter und Gewürze, von denen Simon noch nie etwas gehört hat. Die beiden Köche bringen ihre leichte Welt in die schwere hier, verwandeln die mürrische Hausfrau mit Komplimenten in eine begehrenswerte Frau: "una donna!". Ginos Heiterkeit zaubert. "Sie (die Mutter) lachte nicht, sah ihn nur an, aber in ihrem Blick war etwas Fremdes jetzt, etwas Festliches, es war, so dachte ich, ein Blick aus der Welt vor meiner Geburt. Gino ließ sein Feuerzeug schnappen, und momentlang fühlte ich eine Veränderung im Raum, unerklärlich und nicht zu fassen, wie das Gewicht einer Flamme."
Rothmann ist ein großer Meister im Beschreiben von Atmosphäre. Mit wenigen Sätzen malt er ein ganzes Tableau: wie die müden Eltern im Wohnzimmer Gino das Fotoalbum ihres früheren  Lebens zeigen, eines glücklichen Lebens auf dem Bauernhof. Bevor die Mutter unbedingt, weil dort das Leben war, in die Ruhrpottstadt wollte. In der man für jede Zwiebel plötzlich zahlen mußte.  Und wo der Vater mit einem Ramabrot und Salz in seine Zehn-Stunden-Schicht unter Tage loszieht,  weil die Raten für Schrankwand und Fernseher abbezahlt werden müssen.
Während im Keller des Hauses   eine riesige Voliere voller Wellensittiche im Dunkeln  steht - der Vater will mit den  Jungvögeln Geld verdienen.
Rothmann hat viel Sympathie für seine Figuren, er begleitet sie mit Liebe und mit großer Wärme.
Herzberührend fand ich  zum Beispiel die Szene in einer nächtlichen Kneipe. Müde Musiker, volle Aschenbecher, nur noch wenige Gäste, Rauchschwaden in der Luft, Stühle schon auf Tische hochgestellt  - und mittendrin  tanzt die Mutter, aufgekratzt, überdreht, gegen die Aufforderung des Wirts, schließen zu wollen, mit einem Mann nach dem anderen zu "arrivederci, Hans". Wie eine Verdurstende.
Nach der Beerdigung der Mutter reist Simon in ein japanisches Kloster, wo er begreift, was der Mensch ist: Staub, der einen Besuch abstattet.
Es ist  dieses großartig beschriebene  60er Jahre-Milieu, was mich an dem Buch so begeistert. Es sind  die gebrochenen, facettenreichen Figuren des Romans, die mich berührt haben, mit denen ich Mitgefühl habe. Das alles hat Ralf Rothmann mit seiner Sprache erreicht. Weshalb ich auch seine anderen Bücher alle gelesen habe. Er gehört für mich zu den ganz großen Erzähl-Talenten.

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