Unter Büchern

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Dienstag, 4. April 2017

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol

Copyright: Cornelia Conrad
Natascha Wodin hat den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen. Zu Recht!
Ihr Buch ist  grandios, es hat solch eine Wucht, ich wünsche es mir als Schullektüre: bildend, aufklärend, aufrüttelnd.
Die Autorin kam 1945 in Fürth auf die Welt, ihre Eltern waren ukrainische Zwangsarbeiter, die man während des Kriegs nach Deutschland verschleppt hatte. Als Natascha Wodin neun Jahre alt war, brachte sich ihre Mutter um; sie, die schon immer eine Neigung zu „verschatteten Augen“ hatte, kam mit dem Leben ohne Wurzeln nicht zurecht, und die Ablehnung der Deutschen nach dem Krieg gegen „das  Russenpack“ erstickte das letzte Quentchen Hoffnung auf Leben in Würde in ihr. Diese Deutschen, die den Heimatlosen die kalte Schulter zeigten – wie aktuell ist das alles!
Fast ihr ganzes Leben lang hat sich Natascha Wodin gefragt, wer eigentlich ihre Mutter war; ihre Erinnerungen an sie waren eher atmosphärisch.

Bei Recherchen im Internet stieß sie schließlich auf den russischen Hobbygenealogen Konstantin, und das war ihr Glück: nachdem sie einmal angefangen  hatte zu recherchieren, fanden sich die interessantesten Lebensläufe von Verwandten, lebenden und toten.
Und was sich die Autorin als Kind verzweifelt zusammenphantasiert  hatte über eine Herkunft, die ihr endlich die ersehnte Beachtung ihrer abschätzigen Klassenkameraden schenken sollte, war so nah an der Wahrheit: Ein berühmter Sänger, ein bedeutender Psychiater,  italienische Vorfahren, baltischer Adel – Wodins Mutter kam also mitnichten aus den einfachen Verhältnissen, die die Tochter immer angenommen hatte.

Im ersten Teil dieses tief beeindruckenden Buchs sammelt die Autorin ihre Verwandtschaft ein. Nimmt Kontakte auf, stellt Zusammenhänge her. Es schillert nur so von wohlhabenden kultivierten Menschen, aber es taucht auch ein Muttermörder auf – der Autorin wird das ein bißchen viel auf einmal. Aber die Ansammlung von Verwandtschaft ist wie ein Kreis, den sie erst ganz weit und vage um ihre unbekannte Mutter zieht. Sie nähert sich ganz langsam,  es ist wie bei einem Puzzle: die ersten, Rahmen bildenden Stücke sind notwendig, damit das innere Bild überhaupt entstehen kann. Ich habe die Autorin für diese Sysiphus-Arbeit sehr bewundert, diese überbordende Schatztruhe voller Fitzelchen zu sortieren.
Der dritte Teil ist dann der Geschichte ihrer Tante Lidia, der Schwester ihrer Mutter, gewidmet. Er ist Lidias Vermächtnis: sie wurde wegen ihrer Herkunft und ihrer Gesinnung während der brutalen stalinistischen Säuberungsaktionen in die Verbannung nach Sibirien geschickt.  Dank ihrer Notizen, die wieder durch einen irren Zufall gefunden wurden, erfahren wir die grauenvollen Auswirkungen des Stalin-Terrors: ungezählte Menschen verhungerten qualvoll  in der einst so reichen Ukraine, Plünderungen und Vergewaltigungen zerstörten jede Zivilisation.
Und dann, im vierten Teil, zeichnet die Autorin – mit all dem nun vorhandenen Wissen – ein mögliches Bild ihrer „armen, kleinen, verrückten“ Mutter. Die immer mehr verlosch. Ihrer Mutter, Stellvertreterin für viele Namenlose, denen ähnliches passiert ist,  die keinerlei Hilfe bekommen haben, die keine Töchter haben, die ihnen posthum einen Lebenslauf, ein Da-Sein möglich gemacht haben im Ozean der Vergessenen, Ermordeten und Vertriebenen.
Und das ist so ergreifend, daß man es nie mehr vergessen wird: durch das eine Schicksal von Jewgenia Wodin wird das Leiden der Zwangsarbeiter –ausgebeutet, mißbraucht, gedemütigt – beschrieben; und weil wir großes Mitgefühl mit der trost-losen jungen Frau haben, können wir auch mit den zigtausend  Zwangsarbeitern Mitgefühl haben, deren Leben ver- und zerstört wurde.
Nebenbei – und das ist für mich am anrührendsten – erleben wir ein kleines Mädchen, das nicht mit einem deutschen Nachbarskind jenseits der Baracke, in der es lebte, spielen durfte; dessen Mutter mit ihm nur Ukrainisch sprach, obwohl es in eine deutsche Schule ging; dessen Mutter immer weniger sprach und immer mehr weinte. Und das sich so  verzweifelt danach sehnte, dem Schmerz der Isolation und des Nicht-Dazugehörens zu entkommen.
Die Geschichte der Zwangsarbeiter ist bis heute nur eine Marginalie in der deutschen Geschichtsschreibung. Und es gibt Firmen (Flick!), die sich bis heute ihrer Verantwortung entziehen, keine Entschädigungen zahlen an die Menschen, die sie während des Kriegs für ihren Profit versklavt und ausgebeutet haben.
Natascha Wodins Buch ist keine leichte Kost. Es berührt. Es wirkt lange nach. Das ist der Kunst der Autorin zu verdanken, die mit großem Einfühlungsvermögen und mit eindringlicher Sprache erzählt.
Und es ist notwendig.
Ich wünsche ihm viele Leser.




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