Unter Büchern

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Freitag, 24. Februar 2017

Barbara Honigmann: Chronik meiner Straße

Copyright: Cornelia Conrad


Sie blickt „auf die Straße des Anfangs, in der viele Völker wohnen ..., Hunde und Katzen und ein paar Verrückte“.
Sie beobachtet die Möwen, die „vom nahe gelegenen Rhein durch die Straße stürzen“.
Barbara Honigmann ist nach der Wende von Ostberlin nach Straßburg gezogen.
In die Rue Edel, eine häßliche Straße, die einen eigentlich nicht zum Bleiben einlädt.
Im gedachten Provisorium wurde nur das Nötigste ausgepackt, der Rest blieb in Kisten – und manche dieser Kisten stehen immer noch ungeöffnet herum.
Sie hat als erstes Französisch gelernt. Und ihren Schreibtisch ans Fenster gestellt.
Dieser Ausblick ist sowohl buchstäblich als auch bildlich ihr Fenster in den Mikrokosmos der Straße.

Es gibt dort eine Kinderkrippe, und vor der trifft sich die Drogenszene; die Krippe hat einen sehr guten Ruf. Man respektiert sich gegenseitig, man existiert friedlich nebeneinander (auch wenn wir Leser uns das kaum vorstellen können!).
Es gibt „den neuen Kurden“, der bei den ersten Sonnenstrahlen Stühle und Tische aufs Trottoir vor seinen Laden stellt. Wenn es im Sommer heiß ist, stellt er auch noch Stühle auf der anderen Straßenseite auf – im Schatten.
Es gibt „den Sheriff“, arrogant, grußlos durchschreitet er die Straße. Aber durch die Charmeoffensive von Honigmanns taut er plötzlich auf: er war Fräser, hatte einen Betriebsunfall, rutschte in die Invalidisierung. Die Frau ist ihm abgehauen und hat auch die Kinder mitgenommen.
Es gibt Nadja, die Malerin, die im Haus wohnt. Beim Schwatz vor den Briefkästen hören die beiden Frauen schnell den deutschen Akzent der jeweils anderen – ab da reden sie Deutsch miteinander.
Nadja sagt „Mutti“ und „Vati“ zu ihren Eltern, wenn die sie besuchen. Honigmanns Sohn ist die Anrede fremd, und er will wissen, ob seine Mutter zu ihren Eltern auch „Mutti“ und „Vati“ gesagt habe. Die Frage löst bei Honigmann einen für sie typischen Schlenker aus: sie landet lässig, scheinbar beiläufig, bei ihrer Trauer über die gestorbenen Eltern und darüber, nie mehr im Leben zu jemandem Mutti oder Vati zu sagen.
Und es gibt die drei jüdischen Witwen: Frau Loeb, Frau Weiss und Frau Kertész. Frau Kertész ist nach der Befreiung aus „dem Lager“ in ihre Heimat Budapest zurück; dort „interessierte sich kein Mensch für ihr Schicksal. Die Regierungen der Ostblockänder, auch wenn sie wie Ungarn Verbündete Hitlers gewesen waren, fühlten keine Verantwortung und wohl auch kein Mitgefühl für ihre verschleppten Juden, und die Bundesrepublik zahlte Wiedergutmachung zwar in alle Länder, in die sich Überlebende geflüchtet hatten, doch nicht in die Ostblockländer. Frau Kertész lebte ihr Leben in Budapest weiter, arbeitete als Verkäuferin, heirate einen ungarischen Juden aus dem Bekanntenkreis und bekam mit ihm drei Söhne, Gabor, Endre und Istvan, die sie dann später in Frankreich Gabriel, André und Etienne nannten.“
Ich habe bewußt einen langen Absatz aus dem Buch zitiert, denn er zeigt sehr schön, wie Honigmann immer wieder im Verlauf ihrer Beschreibungen vom Vordergrund in den Hintergrund geht – und das ist für mich Lese-Freude:die Geschichte hinter der Geschichte zu erkennen.
Man erfährt auch manches über elsässische Geschichte, z.B. über das „Sonntagsruhegebot“, das eine deutsche Hinterlassenschaft ist, an der nicht gerührt wurde.
Und man erfährt so ganz nebenbei in ein, zwei lakonischen Sätzen sehr viel über das vorherige Leben der Autorin in der DDR, in dem „ganz andere Werte zählten: Vertrauen, Freundschaft, Poesie“.
Barbara Honigmann beobachtet, sie wertet nicht. Sie beschreibt liebevoll, manchmal spöttisch, manchmal ironisch.  Aber: sie bewertet nicht. Sie bleibt die beobachtende Chronistin – und das macht sie ganz großartig. Das ist ein Buch zum Zweimallesen, denn eigentlich merkt man erst beim zweiten Mal so richtig, was für eine kluge Autorin  hier scheibt – die  es gerade durch ihre Kunst der Beschränkung fertigbringt, daß wir nicht nur in der Straße zu wohnen meinen, sondern en passant auch allerhand Historisches erfahren.

Mit leiser Wehmut entläßt uns Barbara Honigmann aus ihrer Straße, denn auch dort wie überall werden Veränderungen sichtbar; auch dort beginnt schleichend die „Gentrifizierung“.


Wem dieses Buch gefallen hat, dem sei unbedingt noch das Pendant ans Herz gelegt: Pascale Hugues, die Straßburgerin, die in Berlin lebt – und die der eine oder andere durch ihre unvergessene elsässische Geschichte „Marthe und Mathilde“ schon kennt –, hat ebenfalls ein Buch über „ihre“ Straße in Berlin geschrieben. Es heißt „Ruhige Straße in gute Wohnlage“. Und im Untertitel  „Die Geschichte meiner Nachbarn“. Im Gegensatz zur beobachtenden Barbara Honigmann recherchiert Pascale Hugues die Lebensläufe ehemaliger Bewohner ihrer Straße, reist ihnen durch die halbe Welt hinterher, befragt sie, setzt ein Mosaik aus Gestern und Heute zusammen. Unbedingt lesen! Nicht nur Ihr Berliner!






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