Unter Büchern

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Samstag, 1. Oktober 2016

Matthias Brandt: Raumpatrouille

Copyright: Cornelia Conrad
Ich bin Gott sei Dank den Rezensenten gefolgt, die dieses Buch hymnisch besprachen. Ich werde ja immer skeptischer, was das Hochfeuilleton angeht – aber hier: Halleluja! Dieses Buch ist einfach grandios.
Brandt erzählt Geschichten.
Und weil er ein sehr empfindsamer Mensch zu sein scheint, werden die Geschichten vor allem von einem getragen: von einer so dichten Atmosphäre, daß man meint, nicht Zuschauer in ihnen zu sein, sondern Beteiligter.
Was in diesen Geschichten Fiktion ist und was real – das ist völlig gleichgültig.
Denn diese Miniaturen stehen  für eine Zeit, die uns heute schon vorkommt wie  ein anderes Universum: die 60er Jahre.
Die  Geschichte „Kein Laut“ handelt vom Flüchtlingskind Ansgar. Ansgar wird von seinem Vater ständig striemenrot geprügelt, und weil er deshalb stottert und ängstlich und defensiv geworden ist, provoziert er seine Mitschüler geradezu, ihn zu quälen. Brandt freundet sich  heimlich mit ihm an – denn er will ja weiter zur Klasssengemeinschaft gehören! -,  und verrät  deshalb diese heimliche Freundschaft ständig; auch das nimmt der zerstörte Ansgar willenlos hin.
Oder die Geschichte „Nirgendwo sonst“: Der kleine Matthias ist eingeladen bei Holger. Da geht es aufgeräumt und familiär zu, abends wird gemeinsam bei Schnittchen „Drei mal Neun“ mit Wim Thoelke angeschaut; der riesige Fernseher prangt in der Gelsenkirchener Barockwand, der „Vatter“ trägt die beliebte Freizeitkleidung Trainingsanzug plus Unterhemd plus Cordschlappen von Romika. Die Mutter einen einteiligen  orangefarbenen Frotteeanzug.

Es sind nicht nur die Requisiten (Brandt hat ein fabelhaftes Gedächtnis: HB, Tritop,  braune Cordgarnitur, Flokati...); es ist die Atmosphäre, die so greif- und spürbar ist, daß man meint, dieses spießige Wohnzimmer und seine Bewohner zu kennen.  Hier würde der kleine Matthias gern bleiben, ihm gefällt dieser unbekannte Lebensentwurf  zwischen brokatumhülltem Telefon und Klappbett. Aber nachts begreift er plötzlich, was er für ein Heimweh nach seiner Familie hat – und wie sehr er sie gerade in seinen Wünschen und Gedanken verraten hat.
Wer kennt das nicht aus seiner Kindheit? An einem anderen Ort, in einer anderen Familie, in einer anderen Haut  stecken zu wollen?
Brandts subtile Erzählungen von Verrat und der Scham über diesen Verrat (die er aber nie dezidiert erwähnt) sind Meisterstücke.
Brandt läßt uns auch teilhaben an seiner Suche nach der passenden  Haut.
Er wird wechselweise Tortwart (wegen der tollen Klamotten) oder Zauberer  oder Raumpilot (Mondlandung!) – es endet jeweils desaströs. Das wird aber mit so viel Selbstironie erzählt, mit so viel leisem Humor, daß uns der Held der Geschichten  zum Alter Ego wird, zum Spiegel unserer wie auch immer gearteten Wunschträume.
In diesem Mikrokosmos eines sensiblen Kindes, das oft allein und hin und wieder einsam ist, finden wir als Leser unsere eigene Kindheit wieder. Ausgestattet mit jeweils unterschiedlichen Requisiten bleibt das Thema doch immer das gleiche: Wie wir wurden, wer wir sind.



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