Unter Büchern

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Mittwoch, 29. Juni 2016

George Eliot: Middlemarch

Copyright: Cornelia Conrad
Mein Liebster war von diesem Buch so begeistert, daß er oft laut vor sich hinlachte. Und er las mir immer wieder besonders großartige Stellen daraus vor (eigentlich hätte er mir gleich das ganze Buch vorlesen können!). Deshalb habe ich mich ausnahmsweise dazu entschlossen, ihn hier zu einem Gastbeitrag einzuladen - damit Euch seine große Lesefreude anstecken möge. Voià:


Middlemarch!

Über die großen britischen Romanschrifststeller des 19. Jahrhunderts glauben wir
Bescheid zu wissen: Austen, die Brontës, Dickens, Stevenson, Mary Shelley, die uns
den „Frankenstein“ bescherte. Wir reden vom „Jahrmarkt der Eitelkeiten“, auch wenn
uns William Makepeace Thackeray vielleicht nicht so geläufig ist. George Eliot
dagegen, die eigentlich Mary Anne Evans hieß, steht nur bei wenigen auf der inneren
Bestsellerliste. Ihr Buch „Middlemarch“ wurde vergangenes Jahr von 82
internationalen Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern zum bedeutendesten
britischen Roman gewählt. Sie waren von der BBC um ihr Urteil gebeten worden, und
selbstverständlich war kein Brite darunter.
In der Kleinstadt Middlemarch und in den umliegenden Herrenhäusern des
mittelprächtigen Landadels leben um 1830 sehr unterschiedliche Leute. Sie müssen
sich mit Liebeskummer, idealistischen Ideen, überkandidelten Berufsvorstellungen,
Erbstreitigkeiten, Geldsorgen, politischen Reformen und gesellschaftlichen
Vorurteilen herumschlagen, mit Religion, mit dem jämmerlichen britischen
Gesundheitswesen, mit der Bedrohung durch eine unheimliche Erfindung namens
Eisenbahn und noch mit ein paar anderen Sorgen.
Weil es so viele Probleme und so
viele Leute sind, ist das Buch so dick: 1200 Seiten. Aber es ist schade, daß es nur
1200 Seiten sind, denn auf fast jeder Seite wird einem irgendeine hübsche kleine
Freude gemacht.
George Eliot war gescheit, humorvoll und überdurchschnittlich gebildet. Sie konnte
kuntsvoll ironisch werden und hatte eine Gabe für originelle Formulierungen. „Mr.
Brooke war ein enthaltsamer Mann, und das Trinken eines zweiten Glases Sherry
kurz nach dem ersten bedeutete für seinen Organismus eine Überraschung, die
seine Kräfte eher zerstreute als sammelte.“ Wo wurde je ein Schwips so bildhaft
definiert? Eliot ist geradezu verschwenderisch mit solchen funkelnden Kleinigkeiten.
Eliots zeitgenössische Kollegen in Deutschland, Herren wie Theodor Fontane,
Gustav Freytag oder Friedrich Spielhagen, waren irritiert. Sie hatten so etwas noch
nie gelesen. Also meckerten sie, Frau Eliot habe alle Regeln gebrochen, so könne
man keine Romane schreiben. Als sie das losgeworden waren, knurrten sie noch ein
Weilchen rum, dann erklärten sie großzügig, Eliot habe „durch die Tiefe, die
Originalität und fast immer durch die prägnante Form ihrer allgemeinen Reflexionen
und das lebendige, oft geistreiche Geplauder über ihre Helden selbst den Zorn des
beleidigten Aesthetikers nicht selten entwaffnet.“
Im 19. Jahrhundert haben die britischen Autoren die Freiheit genossen, mit Hilfe ihrer
romanisch behauchten Grammatik verschlungene Sätze zu bilden, was auch die
deutschen „Aesthetiker“ nicht weiter beleidigte. Durch diese Sätze findet man sich im
Englischen leichter durch als im Deutschen. Aber es gibt Übersetzer, die der
deutschen Grammatik ein bißchen romanisches Blut injizieren können, und Irmgard
Nickel konnte das mit ihrer Middlemarch-Übersetzung, die sie vor 40 Jahren für den
Aufbau-Verlag in der DDR gemacht hat. Man liest sich schnell in die
Langstreckensätze ein und kommt aus fast allen ohne Schaden heraus.
George Eliot kümmert sich liebevoll um ihre Figuren. Sie gibt ihnen Persönlichkeit
und Charakter, sie läßt sie sich entwickeln. Die idealistische Dorothea wird
ernüchtert. Die anfangs sympathische Tochter des Bürgermeisters schrumpft zur
blöden Schnepfe. Der oberflächliche Fabrikantensohn wird unter Schmerzen
erwachsen. Der ganz und gar gute, edle Herr Pfarrer hat durchaus Schwächen. Der
fiese alte Geizkragen allerdings stirbt als fieser alter Geizkragen, und der
dünkelhafte, gefühllose dumme Pseudowissenschaftler bekommt leider Gelegenheit,
mit seiner Dummheit, seinem Dünkel und seiner Gefühllosigkeit mehrere Leben zu
verdunkeln.

In „Middlemarch“ gibt es auch Vaterschafts-, Herkunfts- und sonstige
Verwandtschaftskomplikationen. Ohne die kamen weder Dickens noch Austen, noch
die Brontë-Schwestern aus. Aber bei Eliot hängt nicht die ganze Geschichte an so
einer Verwicklung – wie das ganze Buch nicht auf ein bestimmtes Schicksal
konzentriert ist, sondern sich allen zuwendet, die in dem Städtchen und in der
Nachbarschaft leben.
Eliot begleitet sie mit Verständnis und freundlichem Spott. Sie macht sich nur ganz
sanft über sie lustig, behandelt sie mit mütterlicher Nachsicht und bringt sie einem
nahe. So erkennt man, daß diese Typen ewig sind, daß sie sie nicht erfunden,
sondern einfach brillant beschrieben hat. Sie hat sie psychologisch betrachtet, ehe
die Psychologie erfunden war. Was Eliot zu diesen Menschen und zu ihrem Leben
eingefallen ist, das bietet uns heute niemand mehr.

                                                                                   Karlheinz Dreyer




2 Kommentare:

  1. Ich geb' es zu: Der Umfang des Buches erschreckt mich. Aber vielleicht könnten ein, zwei Vorleseproben deines Liebsten hier in den Blog gestellt (müsste technisch doch gehen?) meine Neugier verstärken und mich dazu bringen, mir das Buch zu besorgen, es in die Hand zu nehmen, darin zu lesen ...

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  2. Liebe Mirjam,
    hier hast Du einen link:
    https://books.google.de/books?id=bzJVAAAAcAAJ&pg=PP5&dq=middlemarch&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwj9kb2itoDOAhVMXBoKHStlDsYQ6AEIJTAA#v=onepage&q=middlemarch&f=false
    zu einem Kapitel des Buchs. Vorlesen - wie Du Dir das womöglich gewünscht hast - ist nicht, der Chef-EDVler legte bei dem vorgetragenen Wunsch die Stirn in Dackelfalten... Aber vielleicht tuts ja auch der Auszug? Wäre schön!

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