Unter Büchern

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Samstag, 7. Mai 2016

Irmgard Keun: Kind aller Länder

Copyright: Cornelia Conrad
 „In den Hotels bin ich auch nicht gern gesehen,  aber das ist nicht die Schuld von meiner Ungezogenheit,  sondern die Schuld von meinem Vater, von dem jeder sagt: dieser Mann hätte nie heiraten dürfen.“
So beginnt der Roman „Kind aller Länder, in dem die zehnjährige Kully  ihre Geschichte vom Leben aus dem Koffer erzählt..
Dieser Vater, der nie hätte heiraten dürfen, war einmal ein berühmter Schriftsteller. Der von seinen Büchern leben konnte. Die Zeiten sind vorbei, die kleine Familie lebt meist in großer Armut. Sie ziehen als Getriebene von Land zu Land, von  Hotel zu Hotel: „Zuerst werde ich in den Hotels immer behandelt wie das Lieblingshündchen von einer reichen Dame. Die Portiers schenken mir Briefmarken..., und die Kellner wedeln mich freundlich mit ihren Servietten an.... Das hat aber alles ein Ende, wenn mein Vater fortfährt, um Geld aufzutreiben... Wir bleiben als Pfand zurück.“,

Der Vater ist charmant, er hat eine Menge Verehrerinnen, es gelingt ihm immer wieder, Geld von Freunden oder Verwandten zu leihen. Dieses Geld teilt er dann oft mit Menschen, die noch weniger haben als er.
Man erfährt das alles aus Kullys Perspektive. Sie erlebt den Vater als ständig bemüht, sie glaubt an ihn, er wird schon alles in Ordnung bringen. Wir Leser dagegen erleben einen ganz anderen Mann: einen, der seine Freiheit liebt, der seine Frau unglücklich macht, wenn er sich von anderen Damen allzu sehr hofieren läßt; der kaum noch schreiben kann, der oft unzuverlässig ist, der zu viel trinkt.
Kullys Mutter war einmal eine sehr schöne Frau. Jetzt gräbt sich der Kummer in ihr Gesicht und in ihre Seele. Einziger Trost oft: ihre wunderbare, zärtliche Tochter: „Meine Mutter und ich sitzen oft auf einer Bank.Dann machen wir den Mund auf, so daß die Sonne hineinscheint; dann essen wir Sonne und fühlen in unserem Bauch ein warmes glückliches Leben.“
Kully  ist  sehr mit Staunen beschäftigt über all das, was sie sieht und erlebt: Der Amsterdamer Verleger ihres Vaters ist „dunkelböse“, weil er das versprochene Manuskript (für das er längst einen Vorschuß bezahlt hat!) immer noch nicht bekommen hat. In Polen sieht sie Männer, die Pelzmützen aufhaben: „Manchmal eilten Männer vorbei, die hatten ihr Gesicht in Bärte und Haare einwachsen lassen, aber nicht wegen der Kälte, sondern um jüdisch zu sein und den lieben Gott zu erfreuen.“
Und sie macht sich Gedanken: „Eine Grenze ist auch keine Erde, denn sonst könnte man sich ja einfach mitten auf die Grenze setzen oder auf ihr herumlaufen, wenn man aus dem ersten Land ’rausmuss und in das andere nicht ’reindarf. Dann würde man eben mitten auf der Grenze bleiben, sich eine Hütte bauen und da leben und den Ländern links und rechts die Zunge rausstrecken. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann. Sie ist etwas, das sich mitten im Zug abspielt mithilfe von Männern, die Beamte sind.“
Der ganze kleine Roman ist voller  schöner Poesie, wie sie nur ein Kind erleben kann: „Es wurde in großer heller Eile Abend, während noch Nachmittag war.“
Wann der Roman spielt? Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg.
Kully kommt, wie Irmgard Keun, aus Köln.
Und Irmgard Keun lebte, wie Kully, lange in den Niederlanden, wo sie sich vor den Nazis versteckt hielt. Sie war eine vielverspechende junge Autorin, Tucholsky lobte sie „eine Frau mit Humor!“ Ihr ganz eigener, oft schnoddriger Stil, hinter dem sich so viel Herz verbarg, war etwas Neues, Aufsehenerregendes. Die furchtbaren Folgen der Bücherverbrennung wirkten und wirken: nach dem Krieg geriet sie in Vergessenheit. Erst in den 1970er Jahren wurde sie, vor allem durch ihr „Kunstseidenes Mädchen“, wiederentdeckt. Großen Anteil daran hatte Jürgen Serke mit seinem großartigen Buch "Die verbrannten Dichter", durch das Irmgard Keun, verarmt, vergessen, endlich wieder Beachtung bekam.



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