Unter Büchern

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Freitag, 18. September 2015

Harper Lee: Wer die Nachtigall stört


Weil dieser Klassiker (schon wieder ein Begriff,
Copyright: Cornelia Conrad
der Vatermörder und Zwicker und Biedermeier
impliziert....!), also, weil dieser Klassiker nun in jedem Schaufenster liegt, in jeder Zeitung erwähnt wird, habe ich mich erinnert, daß er auch bei mir seit Jahrzehnten im Bücherregal steht. Ungelesen. Denn ich fürchtete immer, daß eben das, was schon meine Eltern (über die Deutsche Buchgemeinschaft) bezogen und in ihr Regal gestellt hatten, nic
hts anderes sein könne als angegrauter Kitsch. "Wer die Nachtigall stört": wieder so ein betulicher Mist aus den 1960er Jahren...

Wie schade, daß ich mich durch meinen Hochmut um die Lesefreude an einem großartigen Buch gebracht hatte. Bis jetzt. Denn jetzt habe ich sie, die Freude, endlich – und will Euch schleunigst nicht nur daran teilhaben lassen, sondern Euch zum Lesen verfü
hren!
Der Roman fängt sehr gemächlich an. Er führt uns 1935 in ein Nest in den Südstaaten. Dort leben viele Weiße in der angestammten Mittel- und Oberschicht – und einige Schwarze: als Köchinnen, Putzfrauen, Baumwollplücker oder Arbeitslose am Rand der hermetisch abgeriegelten weißen Bürgerlichkeit. Die Hauptfiguren des Romans sind: die achtjährige Scott und ihr elfjähriger Bruder Jem sowie deren Vater, von allen Atticus genannt.





Das Mädchen Scott wäre lieber ein Junge, prügelt sich gern, ist aufgeweckt, neugierig – und aufbrausend. Ihr Bruder ist besonnener, er verehrt seinen Vater, der ihm Vorbild ist in seinem Denken und Handeln. Der Vater ist ein idealistischer, vorurteilsfreier Mensch, der seine Kinder unkonventionell erzieht und viele Freiheiten läßt. Er kennt keine Klassen- und Rassenunterschiede und lebt ihnen humanistisches Denken und Handeln vor. Und wenn sie bei ihren Streichen über die Stränge schlagen, hat ihre Bestrafung immer einen erzieherischen Hintergrund: als Jem in unbändiger Wut über eine böse alte Nachbarin, die täglich seinen Vater beleidigt, deren Kamelien köpft, verdonnert ihn sein Vater nicht nur zu einer Entschuldigung, sondern auch zu vier Wochen Vorlesen bei der alten Dame: "Man kann einen anderen nur richtig verstehen, wenn man die Dinge von seinem Gesichtspunkt aus betrachtet. Wenn man in seine Haut steigt und darin herumläuft."
Als Atticus zum Pflichtverteidiger eines Schwarzen ernannt wird, der eine Weiße vergewaltigt haben soll, steht die Kleinstadt kopf. Für die Kinder beginnt ein Spießrutenlaufen: euer Vater, ein Niggerfreund, wie kann er euch das nur antun. Selbst in der Verwandtschaft ist man der Meinung, Atticus bringe durch sein Pflichtbewußtsein Schande über die Familie. Aber Atticus läßt sich nicht beirren. Er nimmt die Verteidung des Schwarzen Tom ernst, denn er glaubt an dessen Unschuld. Die Kinder schleichen sich zur Gerichtsverhandlung ohne Wissen des Vaters in den Saal und erleben zweierlei: wie ihr Vater auf kluge und höflich-besonnene Weise die Anklage zerlegt. Und wie die (weißen!) Geschworenen Tom trotzdem zum Tod verurteilen. Über dieser offensichtlichen Ungerechtigkeit zerbricht für die Kinder der Zauber der Kindheit.
Harper Lee zeichnet ein sehr atmosphärisches Bild dieser verschlafenen Kleinstadt und ihrer Bürger: ein paar, die wissen und leben, daß Schwarze ganz normale Mitmenschen sind – und sehr viele, die diese Schwarzen am liebsten alle im Knast sähen... Wie heißt das heute? Xenophobie...
Und sie erzählt die Entwicklung der Menschen, die sie liebt, im Verlauf der immer spannender werdenden Geschichte so einfühlsam, daß man meint, man wohne Haus an Haus neben Atticus, Scott und Jem in der stillen grünen Straße.
Die Autorin hat für diesen Roman übrigens den Pulitzer-Preis bekommen.
Und noch etwas: in Amerika ist das Buch angeblich nach wie vor umstritten: den Konservativen stinkt die proafrikanische Haltung, den Linken die sprachliche "Unkorrektheit" –wenn z.B. (notwendig!) im Kontext das Wort "Nigger" fällt.

Dieses Buch ist, wie alle guten Romane, von zeitloser Gültigkeit.
Unbedingt lesen!

  


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