Unter Büchern

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Freitag, 23. Februar 2018

Andrei Makine: Die Liebe am Fluß Amur

Drei pubertiertende Jungs, die nichts kennen als abgearbeitete, bis zur Unkenntlichkeit vermummte Frauen ohne Weiblichkeit; als derbe Holzlasterfahrer, die es diesen Frauen "machen“: es gibt in ihrem Mikrokosmos kein Wort für Liebe – und also auch keine Vorstellung davon.
Es ist ein perspektivloses Leben, das Mitja, Utkin und Samurai leben; ohne Plan, ohne Zukunft außer der, später, wenn sie erwachsen sein werden, auch Holzlaster zu fahren, zu saufen, es einer Frau „zu machen“. Ganz bestimmt nicht: zu träumen. Denn ihre Welt ist so klein und eng, daß sie gar nicht wissen, daß es Träume gibt – oder wovon sie womöglich träumen könnten.
Sie leben in einem gottverlassenenen Nest in der tiefsten Taiga. Die Winter dauern neun Monate lang, der Schnee liegt so tief, daß er die Häuser unter sich begräbt. Die Menschen sind müde und ohne Liebe, das Überleben fordert alle Kraft.
Da, oh Wunder, wird im Kino der nächsten Stadt ein Film mit Belmondo gezeigt. Sie können es nicht fassen. Ist das ein Versehen der Kommunisten in Moskau? Die drei Feunde stapfen acht Stunden lang durch den Schnee, um ihn sich anzuschauen. Es ist ihre erste Begegnung mit dem Westen – und sie sind sofort erregt und gleichzeitig fassungslos: es gibt eine Welt außerhalb der ihren! Und was für eine! Sie sehen bezaubernde Städte – Venedig! -, sie sehen erotische Frauen – aber vor allem erleben sie den Schauspieler Belmondo, den Haudegen, den kraftvollen Kämpfer und Verführer.
Und plötzlich öffnet sich durch diesen Film ein Fenster, von dem sie gar nicht wußten, daß es das gibt. Ein Fenster, durch das sie sehen, erleben können, was alles möglich sein kann.
Sie gehen in jede Vorstellung, achtzehn Mal, sie lernen den Film auswendig, sie diskutieren über ihren Helden, sie entdecken bei jedem Schauen neue Winzigkeiten, die sie lange beschäftigen. Ihnen ist, als ob Belomondo ihr Korsett der Enge sprengen würde.
Die Beschreibung ihrer Nachtwanderungen durch die Taiga sind von einer  solchen Intensität, daß wir meinen, es selbst zu erleben: das Knacken der Bäume unter der Schneelast, die Flocken, die beim Taumeln vom Mond beschienen werden, als ob sie aus Silber wären, die große Stille, die  Weite ohne Ende.
Die drei Freunde verändert der Film, ohne daß sie es merken. Es ist ihre Identifikationsfigur Belmondo, der sie ganz allmählich mögliche Wege aus ihrer inneren und äußeren Enge ahnen läßt.
Er weckt in ihnen Mut, sie selbst zu sein. Zu werden. Zu handeln. Träume zu haben.
Und er zeigt ihnen, daß die Liebe nicht nur  freudloses Gerammel ist, sondern Prickeln und Flirren und Schmerz und Sehnsucht.
Das ist ein ganz wunderbares Buch. Ich mußte es sehr langsam lesen, denn die Sprache Makines ist so eindringlich, so voller Poesie, daß man nicht schnell lesen kann – man würde sich den Genuß stehlen, in den Bildern zu versinken, die der große sibirische Erzähler Makine (der übrigens schon lange in seinem  Sehnsuchtsland Frankreich lebt und auf Französisch schreibt) mit seinen Worten zaubert.


Copyright: Cornelia Conrad


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