Unter Büchern

Unter Büchern

Samstag, 16. Dezember 2017

Susann Pásztor: Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster


Copyright: Cornelia Conrad
Herr Wiener ist nicht unbedingt ein Typ, der einem sympathisch ist.
Er ist ein introvertierter Einzelgänger, er hat keine sonderlichen Interessen oder Hobbys. Freunde schon gar nicht. Sein einziger sozialer Kontakt – wenn man das überhaupt so nennen kann – ist der zu seinem 13jährigen Sohn Phil, den er allein erzieht.
Herr Wiener nun läßt sich zum ehrenamtlichen Sterbebegleiter ausbilden.
Und kommt bei seinem ersten Besuch: zu Karla.
Karla ist eine lebhafte, temperamentvolle widerspenstige und vor allem völlig unkonventionelle Frau um die Sechzig. Sie läuft immer barfuß („mit Schuhen kann man nicht so schnell weglaufen“!) und trägt über ihrem mager gewordenen Körper bunte Klamotten. In ihrer völlig überhitzten Wohnung hängen jede Menge Konzertplakate der Popgruppe „The Greatful Dead“ an den Wänden.
Karla hat Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Sie wünscht sich eher menschlichen Kontakt und normale Gespräche ohne Betroffenheitstonlage als Sterbebegleitung.
Deshalb reagiert sie spöttisch, als der beflissene, übermotivierte Fred Wiener bei ihr auftaucht und läßt ihn auflaufen.
Das aber spornt den an: er will alles richtig und gut und toll machen. Nicht aufgeben. Karla ein letztes festliches Weihnachten ausrichten (will die das überhaupt?) und sie gleich noch  mit ihrer Schwester versöhnen, mit der sie offensichtlich im Clinch liegt.
Aber es geht alles fürchterlich schief.
Und Karla bricht den Kontakt zu ihm ab.
Da kommt Phil ins Spiel, Fred Wieners Sohn: Karla wünscht sich, Ordnung in ihr photographisches Lebenswerk zu bringen und stellt ihn ein. Phil soll ihre Negative scannen und archivieren.
Karla lobt ihn für seine gute und zuverlässige Arbeit, und dieses Lob stärkt den Jungen  in seinem Selbstbewußtsein, das mit 13 nicht unbedingt groß ist.
Ganz behutsam entstehen zwischen den Beiden Gespräche. Über Gedichte. Über Musik. Über die ganz normalen Dinge des Lebens.
Genau das, was beide brauchen in ihren Einsamkeiten. Phil fühlt sich von Karla ernstgenommen, Karla genießt die Gesellschaft des unverstellten Jungen: endlich jemand, der sie nicht behandelt wie ein rohes Ei, endlich jemand, für den nicht ihre Krankheit im Vordergrund steht, sondern sie als Person mit all ihrem gelebten Leben.
Und dabei wächst eine zarte Zuneigung.
Aber alle wissen: Karlas Sterben hat schon lang begonnen...
Fred Wiener, der Ritter von der traurigen Gestalt,  reflektiert in seiner Hospiz-Gruppe sein übergriffiges Verhalten Karla gegenüber und verändert sich langsam. Er gewinnt zunehmend an Persönlichkeit. Aber auch die spröde autarkiebesessene Karla verändert sich. Und natürlich  Phil.
Der Roman wird abwechselnd aus der Perspektive von Fred und Phil erzählt.
Karlas Gedanken und Empfindungen stehen in knappen Gedichten – die wie ein Rap-Stakkato klingen – auf einer ganzen, ansonsten  leeren Seite. Und sind gerade deshalb sehr eindringlich in ihrer Wucht voller Verzweiflung und Fatalismus.
Das Buch  hat mich sehr berührt. Es erzählt wunderbar zart  von fast nichts anderem als von der Liebe zum Leben.  Dabei es geht mit dem Thema Sterben so unverkrampft um wie Karla sich das wünschte.
Es ist ein Buch über Toleranz: Leben und leben lassen. Aber auch: Sterben und Sterben lassen.

                                 

Susann Pásztor ist  eine deutsche Autorin und als ausgebildete Sterbebegleiterin in der Hospizarbeit tätig.

3 Kommentare:

  1. Dank dir, Cornelia, für den Tipp - das Buch kommt auf meine Wunschleseliste für 2018. Mirjam

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Und Dir, liebe Mirjam, Dank für die Rückmeldung. Das Buch wird Dich, wie mich, beschäftigen und berühren.

      Löschen
  2. Liebe Cornelia, irgendwie muss deine Buchbesprechung hängen geblieben sein denn gerade habe ich das Buch gelesen, Jahre später, und es hat mir sehr gefallen und ich freue mich, deine Beschreibung noch einmal zu lesen.
    Beate

    AntwortenLöschen