Unter Büchern

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Dienstag, 21. November 2017

Richard Russo: Diese gottverdammten Träume


Copyright: Beate Schröder
Mannomann – was für ein großartiges Buch!
Ich bekam es von einer Freundin für die Ferien geschenkt – und die Lektüre hat mich so gebannt, daß ich die 750 Seiten in vier Tagen las.
Ich war (und bin) so hingerissen von dem Roman, daß meine Blogger-Unlust mit einem Schlag beendet war. Was für ein Glück für mich – und hoffentlich auch für Euch.
Also: Miles, der Antiheld dieses Sittengemäldes, ist ein Mann mittleren Alters. Er blieb in dem gottverdammten Nest Empire Falls hängen, weil er seine sterbende Mutter begleiten wollte und deshalb sein Studium abbrach. Er ist  lieb und sanftmütig, schicksalsergeben, ein Zauderer; einer, der immer versöhnlich ist und auf Ausgleich bedacht  – egal, wie mies man mit ihm umgeht. Und es gehen einige ziemlich mies mit ihm um:
Da ist zum einen seine Frau Janine. Sie hat ihn wegen eines sexstrotzenden Gockels verlassen und meint, mit diesem testosterongesteuerten Hohlkopf könne sie endlich das Leben leben, das sie  nicht  hatte an der Seite ihres langweiligen Mannes Miles. Der geht nämlich in der Geschäftsführung seines kleinen Lokals völlig auf und schuftet sich dumm und dusslig in dem Diner. Selbstverständlich überläßt der gute Miles seiner Janine nach der Trennung das gemeinsame Haus und bezieht ein Zimmer über seiner Burger-Braterei.
Zum anderen ist da die allmächtige Mrs. Whiting.
Der gehört die halbe Stadt – und auch die Burger-Braterei (samt deren Pächter Miles). Der gutgläubige Miles erwartet allen Ernstes, daß ihm Mrs. Whiting, wie versprochen, den Diner vererben wird, wenn sie  stirbt. Allerdings erfreut die sich bester Gesundheit und schmiedet immer neue undurchschaubare Pläne. Und so läuft Miles seinem Traum hinterher wie einst der Esel der Karotte, die man ihm vor die Nase gebunden hatte, damit er geht und geht und geht...
Des weiteren gibt es noch den zwielichtigen Polizisten der Stadt. Und den offensichtlich ver- und gestörten John...
Tick (Christina!) ist der strahlende Gegenentwurf, Sie ist Miles´ Tochter.  Mitten in der Pubertät und im Selbstfindungsprozess – und außerdem im Loyalitätskonflikt zwischen ihren getrennten Eltern. Sie ist ein intelligentes Mädchen, das denken und reflektieren kann. Deshalb hat sie kaum noch Anschluß in ihrer Highschool: seit sie sich von ihrem Freund Zack, einem verschlagenen, menschenverachtenden Kerl, getrennt hat, begreift sie schmerzlich, daß man nur dazugehört, wenn man macht, was Zack sagt. Die beiden Außenseiter Tick und John kommen sich näher...
Ganz gemächlich entwickelt Richard Russo seine  Geschichte. Sie schraubt sich enger und enger und bekommt dadurch  einen immensen Sog: wird Miles endlich aufwachen und sich wehren? Gegen Mrs. Whiting und ihr schwer zu verstehendes Strippenziehen? Gegen den korrupten Polizisten der Stadt? Gegen seine Exfrau Janine und deren neuen Mann, das Großmaul Walt? Wird er endlich sein Leben selbst in die Hand nehmen und sich nicht immer nur nach den anderen richten?
Richard Russo hat für das Buch 2002 den Pulitzer-Preis bekommen. Nun ist es endlich auf deutsch erschienen. Es ist einer der eindrucksvollsten Romane, die ich seit langem gelesen habe. Die Kleinstadt Empire Falls, in der dank der  beherrschenden Familie Whiting alles peu a peu den Bach runtergeht (die Fabriken wurden gewinnbringend verkauft, ist ja egal, daß es dadurch immer mehr Arbeitslose gibt), steht in ihrem Verfall so plastisch vor uns, daß wir meinen, in ihr zu leben. Respektive zu ersticken in Agonie. Bis – ja, bis im Showdown sich alles ändern wird...
Gut geschriebene, atmosphärische Bücher sind die, die sich eingraben ins Lesegedächtnis –  selbst wenn man eine größere Pause gemacht hat in der Lektüre. Man fühlt  sich beim Wiedereinsteigen sofort vertraut  – es gibt kein Fremdeln, keine Aufwärmphase. So ein Buch war übrigens auch „Schnee, der auf Zedern fällt“ von David Guterson.
Der nächste Russo-Roman liegt schon auf meinem Nachttisch. Ich kann damit unmöglich warten, bis ich wieder Urlaub habe..




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