Unter Büchern

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Freitag, 30. Juni 2017

Juli Zeh: Unterleuten

Copyright: Cornelia Conrad
Mein Lieblingsbuchhändler bei Wittwer in Stuttgart schwärmte in den höchsten Tönen davon. Ich machte trotzdem lange einen großen Bogen um dieses Buch, es war mir einfach zu dick.
Jetzt habe ich es endlich gelesen. Verschlungen.
Und muß Euch sofort mit hineinnehmen in meine Begeisterung!
„Unterleuten“ – was für eine manierierte Zusammenziehung von zwei Wörtern; dachte ich immer. „Unterleuten“  aber ist ein Dorf. Und damit ist der Titel –so wie dann der ganze Roman – höchst hintersinnig.
Ein Dorf irgendwo in der ostdeutschen Pampa. Die Menschen, die da leben, werden uns nacheinander vorgestellt – und schon beim ersten Portrait ahnt man, wo es langgehen wird:
Ein junges Paar, Gerhard und Jule, von der bösen lauten Großstadt weggezogen ins beschauliche Dorf.  Er ist doppelt so alt wie sie, verkrachter Uni-Dozent, von seinem Gutmenschentum besoffen, jetzt engagierter Vogelschützer, sie seine ehemalige Studentin, natürlich bildhübsch. Die beiden haben  ein kleines Kind. Sophie.  Wird von der Mutter ständig herumgetragen, ständig gestillt und ständig gegen den fürsorglichen  Vater abgeschottet. Die drei leiden im knallheißen Sommer bei hermetisch verschlossenen Fenstern und Türen, denn nebenan wohnt „das Tier“, Schaller mit Namen, und der verbrennt Tag und Nacht alte Autoreifen und räuchert damit die Neuzugezogenen so ein, daß deren  Nerven bald blank liegen.

Schaller handelt im Auftrag von Gombrowski. Gombrowski ist ein mächtiger Mann. Und der größte Arbeitgeber des Dorfs: er hat die  ehemalige LPG vor dem Zugriff der West-Abwickler gerettet und in die „Ökologica“ umgewandelt. Damit ist er im ehemaligen kommunistischen Osten für manche natürlich das „Kapitalistenschwein“. Vor allem  für seinen Gegenspieler Kron. Die Feindschaft zwischen Kron und Gombrowski  ist uralt und hat ihre Wurzeln in einer Zeit, in der Kommunismus alles und Kapitalismus des Teufels war. Kron als überzeugter Anhänger der kommunistischen Idee unterstellt seinem Erzfreind Gombrowski jede Bosheit – und sei die Unterstellung auch noch so hanebüchen.
Gombrowski, der allmächtige,  hat seinem Freund Arne ins Bürgermeisteramt geholfen; Arnes große Liebe ist an Krebs gestorben. Was Arne aber restlos schmeißt, ist, daß er kurz nach ihrem Tod herausfindet, daß sie Stasi-Spitzel war. Gombrowskis (nicht ganz uneigennützige!) Idee, Arne zum Bürgermeister zu machen, gibt diesem wieder eine Perspektive, eine Aufgabe. Und die Dankbarkeit läßt ihn zum willfährigen Gehilfen  Gombrowskis werden...
Arne und seine Frau waren kinderlos und haben sich lange sehr um Katrin gekümmert. Katrin wiederum ist die Tochter von Kron...
So schlendert die Autorin von einer Figur zur nächsten, nimmt nach und nach das ganze Personal ihrer Tragik-Komödie auf ihr Erzähl-Karussell und dreht daran immer schneller.
Dann platzt die Bombe: in der Gemeinde sollen Windräder aufgestellt werden!
Dieses Windräder-Projekt   läßt schließlich Animositäten, alte Feindschaften, Neid und  eigennützige Interessen aufeinanderprallen. Schallers Autoreifenqualm ist ein Dreck gegen die Giftwolke, die jetzt über Unterleuten hängt.


Es macht Zeh spürbar Spaß, ihre Figuren zu entlarven. Sie führt sie nicht vor, das wäre schändlich und billig. Nein, sie gesteht ihnen zu, eine eigene Ansicht zu haben. Nur wird diese Ansicht dann von ihr im nächsten Kapitel infrage gestellt: indem sie den nächsten Protagonisten in den Fokus rückt und dessen Ansichten- und die wiederum lassen sich schwer vereinbaren mit dem zuvor Erzählten.
Jeder betrügt jeden – und jeder betrügt sich selbst. Und jeder ist so geblendet von seinem Wunschdenken, daß er zunehmend seine Kritikfähigkeit verliert.
Ich bin fasziniert von der Klugheit und Rafinesse der Autorin, die uns auf beeindruckende Art schildert, wie es durch Mißverständnisse und Vorurteile zu einer Eskalation kommen kann.
Nie zuvor habe ich diese Unterschiede zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung so klug und deutlich in einem Roman beschrieben bekommen wie hier! Man möchte hineinsteigen in die Handlung und eigentlich jeden mal ordentlich schütteln.
Ein großer, großartiger Gesellschaftsroman, den man, allen Großfeuilletons zum Trotz, gut lesen kann. Soll. Muß.

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