Unter Büchern

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Samstag, 12. November 2016

J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land

Das ist eine ganz entzückende, zarte kleine Geschichte, deren Leichtigkeit mich sehr verzaubert hat.
Ein junger Mann, schwer kriegstraumatisiert, kommt im Sommer des Jahres 1920 in das kleine englische Dorf Oxgodby – er hat  seinen ersten Auftrag als Restaurator: er soll dort ein übertünchtes Wandgemälde in der Kirche freilegen.
Der Pfarrer, Reverend Keach, findet das zwar unsinnig, ist ensprechend muffig und abweisend; da er aber das Testament einer reichen Frau erfüllen muß (Bedingung: Ihr bekommt mein Geld nur, wenn Ihr das verborgene Wandgemälde in der Kirche freilegen lasst!), begrüßt er den jungen Fremden widerwillig: „Mein Gesicht... neigte zu krampfartigen Zuckungen. Menschen wie Reverend Keach riefen es geradezu hervor...“
Langsam lernt der junge Mann, dessen Namen wir erst im Verlauf der Geschichte erfahren (er heißt Tom Birkin), die Dorfbewohner kennen. Allen voran die bildhübsche Alice Keach, Ehefrau des muffigen Pfarrers, die ihn in ihrer Schönheit an ein Botticelli-Gemälde erinnert: „Man stelle sich vor – der ganze Stolz der Uffizien spazierte einfach so in der Fremde herum, in – Gott stehe uns bei – Oxgodby!“  Dann gibt es noch die 14jährige Kathy Ellerbeck, Tochter des Bahnhofsvorstehers, die Tom Birkin unmerklich immer mehr ins (Dorf-)Leben zieht. Oder den nonchalanten Moon, der nach einem uralten Sarg auf dem Kirchengelände suchen soll.
Mr. Birkin wohnt, um Geld zu sparen, im Glockenturm der Kirche. Von dort hat er einen hinreißenden Blick hinunter auf die englische Sommerlandschaft. Und  schläft da oben „zum ersten Mal seit vielen Monaten  wie ein Toter... Nachts gab es dort oben auf meinem Dachboden hoch über den Wiesen und Feldern  und fern der Straße, zu weit entfernt, als dass Stimmen zu hören gewesen wären, nichts, was mich störte.“
Je mehr Mr. Birkin Stück für Stück in das Wandgemälde vordringt –und dabei immer mehr ins Staunen kommt über dieses kolossale Kunstwerk -, dabei immer wieder Besuch bekommt von der schönen Alice oder der neugierigen Kathy, kommt er, ohne es zu merken, auch wieder ins Leben zurück. Diese Allegorie gefiel mir sehr – indem die Figuren des Wandgemäldes sichtbar werden, werden es auch die Dorfbewohner. Der Schlüsselsatz der Erzählung klingt zwar etwas holprig (was sehr schade ist), trifft es aber auf den Punkt: „Doch dann wurde ich, wie es sich eben so zuträgt, in das sich vor meinen Augen verändernde Gemälde namens Oxgodby hineingezogen...“
Sein Gesichtszucken läßt nach, er stottert nicht mehr – und er gesteht sich ein, daß er sich unsterblich in die schöne Pfarrersfrau Alice  verliebt hat.
Die Erzählung von knapp 160 Seiten ist von einer leuchtenden Dichte, jedes Wort, jeder Satz hat Bedeutung und Gewicht.
Und diese Naturbeschreibungen! Wir erleben mit Mr. Birkin einen sirrend heißen August, der nie zu Ende zu gehen scheint. Und meinen, diesen Monat auf dem Land in Oxgodby mit allen Sinnen mitzuerleben.
Die kleine Erzählung erschien schon in den 1980er Jahren in England (der Autor starb 1994) und ist dieses Jahr in Deutschland erschienen. Was für ein Glück!

Copyright: Cornelia Conrad

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