Unter Büchern

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Sonntag, 29. Mai 2016

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Copyright: Cornelia Conrad
Ich möchte  zurück in den Roman!
Eine derart dichte, atmosphärische Geschichte habe ich sehr lange nicht gelesen.
Sie hat mich so tief beeindruckt, daß ich vorläufig kein neues Buch anfangen kann – ich muß noch eine Weile in der Nähe von Marie-Lore und Werner leben. Da hat grad nichts anderes Raum.
Marie-Lore ist ein blindes Mädchen. Sein einfühlsamer Vater baut ihm das Pariser Arrondissement, in dem sie leben, in maßstabsgetreuer Miniatur nach, Haus für Haus, Straße für Straße, Baum für Baum. So kann Marie-Lore mit den Händen lernen, was später ihre Füße umsetzen müssen.
Parallel dazu lesen wir die Geschichte Werners, eines Waisenjungen, der in der Nähe von Essen bei einer Elsässerin aufwächst. Durch die er Französisch lernt. Werner ist ein neugieriger Tüftler, baut aus Schrotteilen ein kleines Radio zusammen, hört mit seiner Schwester fasziniert einem Franzosen zu, der  Wissenschaftssendungen für Kinder so hinreißend vorträgt, daß die Geschwister viel daraus  lernen. Bald hat Werner im Städtchen einen exzellenten Ruf als Radio-Experte,
der alle kaputten Apparate wieder zum Laufen bringt.
Die dunkle braune Zeit beginnt. Werner darf dank seines riesigen Talents auf eine Napola-Schule. Während Marie-Lore mit ihrem Varer nach St. Malo fliehen muß, weil die Deutschen Paris besetzen.
Und irendwann landet auch Werner, der trotz Napola völlig unpolitische Werner, der nur an seiner Elektronik hängt, in St. Malo. Dort soll er die Feindsender der Resistance aufspüren.
Währenddessen geht die blinde Marie-Lore jeden Morgen zum Bäcker, wo sie frisches Brot kauft. In dem Zettel versteckt sind, auf denen  kodierte Nachrichten stehen,  die ihr Großonkel Etienne später über seinen versteckten Sender weitergibt...
Doerr erzählt das alles (und noch viel mehr – aber das soll hier nicht verraten werden!) in einer unglaublich präzisen, oft lakonischen Sprache – und bringt dabei das Kunststück fertig, diese Sprache poetisch und zart klingen zu lassen.
Doerrs Figuren bekommen durch ein, zwei Worte, durch einen Nebensatz solche Kontur, daß man sie in einer Menschenmenge sofort erkennen würde.
Trotz des düsteren Hintergrunds (der für die Entwicklung der Geschichte aber sein muß!) hat der Roman keine Schwere. Aber eine große Tiefe: es ist mir als Leserin selten passiert, daß mich scheinbar nur Angedeutetes so packt, so beeindruckt, so fasziniert hat.  Doerr schreibt im Präsens, was das Kino im Kopf noch verstärkt.
„Alles Licht, das wir nicht sehen“ hat für mich – obwohl man die Romane sonst überhaupt nicht vergleichen kann! – eine ähnlich eindringliche Atmosphäre wie Kate Atkinsons „Unvollendete“.
Anthony Doerr bekam den Pulitzer-Preis für diesen Roman. Die Rezensionen in den großen Zeitungen (FAZ, SZ oder Zeit online) sind hochnäsig – als ob ein spannender, intelligenter und menschlicher Roman für die Rezensenten sofort in die Ecke der Trivialliteratur gehörte...
Nicht abhalten lassen! Ausleihen, verschlingen, besitzen wollen!



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