Unter Büchern

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Samstag, 23. Januar 2016

Kate Atkinson: Die Unvollendete

Daß dieses Buch weit und breit einzig-
Copyright: Cornelia Conrad
artig ist, zeigt schon die Tatsache,
daß bei uns im Bücherhaus seit einer Woche darüber geredet wird;"hör mal"... "wie findest du"..."Frau Atkinson sagt"...
Diese Kate Atkinson ist eine unglaublich kluge, gebildete Frau mit einem Humor, der zum Niederknien ist.
Außerdem kann sie schreiben. Und wie!
Sie erzählt die Geschichte ihrer Heldin Ursula. Deren Lebensweg durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber es ist kein linear erzählter Lebensweg. Kate Atkinson hat sich etwas sehr Raffiniertes ausgedacht: sie läßt nämlich ihre Ursula in brenzligen Situationen sterben ("es wurde dunkel") – um sie dann sofort wieder ins Leben zu befördern. Wo Ursula die ganze Geschichte neu und anders anfängt. Und also eine Variation des Themas lebt.
Ob diese Vatiation allerdings besser ist als das ursprüngliche Thema, bleibt dahingestellt.
Ursula wird in einer schneereichen Nacht geboren. Der Arzt kommt zu spät, sie erstickt an ihrer Nabelschnur. Sie stirbt.
Ursula wird in einer schneereichen Nacht geboren. Der Arzt kommt rechtzeitig. Und Ursula lebt.




Das Hausmädchen Bridget kommt abends von einer Siegesfeier zum Ende des Ersten Weltkriegs zurück, hat sich dort mit der Spanischen Grippe angesteckt und stirbt nach wenigen Stunden. Ursulas kleiner Lieblingsbruder Teddy saß an Bridgets Krankenbett – und deshalb stirbt auch er an der Spanischen Grippe.
Ursula stirbt. In ihrer nächsten Lebensvariation verhindert sie trickreich, daß Bridget überhaupt ausgeht – so rettet sie deren Leben und das ihres kleinen Bruders.
Oder: An ihrem 16. Geburtstag wird Ursula vergewaltigt und schwanger. Ihre Tante Izzie, das schwarze Schaf der Familie, vermittelt ihr eine Abtreibung . Danach ist Ursula so voller Scham und so einsam, daß sie es nicht merkt: der Mann, der ihr den Hof macht, ist ein Dreckskerl. Sie heiratet ihn und stellt schnell fest, daß sie in einer furchtbaren Falle sitzt. Als sie schließlich fliehen will, schlägt ihr wahnsinniger Mann sie tot. Und dieses Kapitel ihres Lebens beginnt von vorn: diesmal wehrt sie sich gegen den Vergewaltiger, er läßt von ihr ab, sie wird nicht schwanger, sie heiratet nicht den brutalen Derek.
Ursula weiß nichts von den verschiedenen Lebensentwürfen. Aber sie fühlt sich vor einschneidenden Erlebnissen oft beklommen und hat auch hin und wieder seltsame Déjà-Vu-Empfindungen: Hier war sie doch schon mal? Hier war sie noch niemals...
Das alles ist keine esoterische Fantasy-Geschichte. Sondern die Autorin, Erschafferin ihrer Ursula, spielt mit den Möglichkeiten von Handlungen und daraus resultierenden Schicksalen.
Atkinson beschreibt in scheinbar zusammenhanglosen Vor- und Rückblenden Ursulas verschiedene Leben. Das verlangt am Anfang des Romans Konzentration. Aber wenn man dann mal "drin" ist, kann man nicht mehr aufhören. Und man zittert mit der Heldin, ob sie in Variation B besser wegkommt als in Variation A (wird hier natürlich nicht verraten). Man hat Vergnügen an Atkinsons lakonischen Personenbeschreibungen, die sie oft in einem Halbsatz, noch dazu in Klammern, wie beiläufig einstreut: ("...obwohl sie eine "fromme Christin" war, was laut Pamela hieß, daß sie ihre Kinder oft schlug und sie zum Frühstück essen ließ, was sie abends verschmäht hatten...")
Und die Autorin streut raffiniert Details aus der einen Handlung in deren Variation – Wiedererkennungsmerkmale und Assoziationshilfe für uns, die Leser, die daraufhin auch ihre Déjà-vus haben .
Viel Raum nimmt die Bombardierung Londons während des Zweiten Weltkriegs ein. Das ist so atmosphärisch und so dicht (in Variationen! erzählt, daß ich mich an die Anfangssequenz von Tartts Distelfink erinnert fühlte.

Ich hebe das hervor, weil ich weiß, daß manche nichts mehr lesen wollen über die Zeit des Kriegs. Deshalb seien sie vorgewarnt: denn ist man erstmal drin in dem Atkinson-Ursula-Sog, kann man das Buch unmöglich wieder aus der Hand legen.

Ich stelle es hiermit in das Regal "Lieblingsbücher" – und also in den Blog!




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