Unter Büchern

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Donnerstag, 6. August 2015

Oliver Storz: Die Freibadclique

Copyright: Cornelia Conrad
"Ich weiß noch: das Licht. Diffus,dunstig, sonnenlos, hellgrau-flach, eine glatte  Flanellhimmelsdecke, durch deren Gewebe die
die Hitze heruntergepresst wurde auf Fleisch, Gras undWasser."
Da sitzen sie im Freibad auf dem sommerheißen Steinmäuerchen und schmachten Lore hinterher: Zungenkuss, Bubu, Hosenmacher, Knuffke und der Ich-Erzähler. Es ist Nachmittag, im Schwimmbecken kreischen und juchzen Kinder. Über ihnen "eine langsam zuwachsende Lärmschneise, die ein Düsenjäger in den Himmel gerissen hatte." Aber Lore im roten Badeanzug beachtet die 15jährigen Bengel nicht, sie ist vier Jahre älter – also Lichtjahre entfernt.
Es ist der Sommer 1944. Die Jungs der Freibadclique interessieren sich nicht für den Krieg, sie interessieren sich mehr dafür, wie sie in Filme kommen, die nicht jugendfrei sind und für Feindsender, in denen sie Duke Ellington, Benny Goodman und Glenn Miller hören können. Sie sind cool, sie haben ein freches Mundwerk, sie philosophieren schnoddrig über das, was sie bewegt: Mädels, Schule schwänzen, hin und wieder auch die Knallchargen in Berlin; Gefühle werden in Halbstarkenmanier übersprungen. Trotzdem haben alle vier hinter ihrer scheinbaren Lässigkeit eine zarte und verletzliche Seele, in der die Angst kauert. Denn sie wollen leben. Allen voran Knuffke, der Berliner Junge, der in der schwäbischen Kleinstadt gelandet ist und der reifer und weiter ist als die anderen drei, weil er als Flüchtlingskind ohne Eltern überleben muß und will. "Bleib übrig!"
Als sie die Einberufung zu einer angeblichen medizinischen Reihenuntersuchung bekommen
, schwänzen sie den Termin. Sie ahnen, daß sie, gingen sie hin, am Haken der Wehrmacht hingen. Aber sie entkommen trotzdem nicht. Die SS zwingt sie in einer hanebüchenen Aktion, Aufnahmeanträge zu unterschreiben. (Ist uns das nicht in letzter Zeit begegnet? Grass? Schmidt? Jens?) Sie werden gedrillt und dann verfrachtet nach Kehl am Rhein, wo sie Wälle schaufeln sollen gegen den Franzosenfeind.
Nach dem Krieg trifft sich die dezimierte Clique noch einmal im Schwimmbad. Sie reden über den toten Zungenkuss und den toten Hosenmacher – und sie warten auf Knuffke, der ein wichtiges Rad im Getriebe des Schwarzmarkts geworden sein soll, der die tizianrote Gunda liebt, die aber ihrerseits mit dem Chefermittler der Amerikaner eine Liaison eingegangen ist...

Storz erzählt die Geschichte der Clique und deren Ende mit einer lakonischen, beiläufigen Sprache (quasi: mit den Händen in den Hosentaschen!), hinter deren Schnoddrigkeit sich viel Wärme verbirgt. Er liebt seine Jungs (von denen er ganz offensichtlich einer war); mit wenigen Beschreibungen und vielen schlagfertigen Dialogen bringt er sie uns sofort nah. Und unsere Zuneigun
g zu ihnen wächst von Seite zu Seite dieses wunderbaren Romans. Storz kennt das Mileu und den Boden seiner schwäbischen Kleinstadt, er ist auf Augenhöhe mit seinen Freunden. Er kennt die Biedermänner und Kleinbürger der Stadt, bodenständig, im Protestantismus verhaftet – und hat sich in seinen hochgelobten Filmen, für die er unter anderem den Grimme-Preis bekam, daran abgearbeitet. Daß er eine große Affinität zum Film hat, merkt man beim Lesen: seine Beschreibungen von Licht, von Stimmungen sind so grandios, daß der Filmprojektor im Kopf des Lesers große schöne Bilder auf die Leinwand der Phantasie zaubert. Storz, Jahrgang 1929 – wie seine Freibadclique -, hat das Buch mit großem Abstand geschrieben. Es erschien 2008.


Dieses Buch liegt mir sehr am Herzen. Sein sehr eigener Ton – fast möchte ich sagen: "sound" -, prägt sich tief ein. Und die so plastisch beschriebenen Jungs stehen stellvertretend für eine ganze Generation. Wir wissen so wenig über sie – höchstens sehr verdichtet in der sogenannten E-Literatur. Hier hilft uns einer, aus scheinbar unmittelbarer Nähe; und das ist die große Kunst von Storz: daß er nur aus der Distanz heraus dies alles erzählen kann – und gleichzeitig dem Leser vermittelt, er sei mittendrin im Geschehen. Ich bedaure es, daß dieses großartige Buch nach wie vor ein Geheimtip ist – und deshalb lege ich Euch seine Lektüre eindringlich ans Herz!



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