Unter Büchern

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Donnerstag, 20. August 2015

Lily Brett: Chuzpe


Copyright: Cornelia Conrad
Ich besuchte eine Freundin. Da sie einen Bücherhaushalt hat, nahm ich nichts zu lesen mit, denn ich verließ mich auf die Fülle ihrer Regale.
Nach einem Tag voller gesprochener Worte brauchte ich abends noch welche zum Lesen.
Sie drückte mir dieses Buch in die Hand – und ich wußte: wenn ihr das gefallen hat, dann gefällt es mir auch. Ich fing an zu lesen, lieh es mir aus, las zu Hause weiter – und am Ende des Tags war ich fertig, klappte das Buch zu, glückselig über solchen Lesegenuß. Drückte es meinem Liebsten in die Hand: hier, lies.
Und ging an mein Bücherregal, um zu sehen, ob ich von der Autorin noch was anderes hätte. Da traf mich der Schlag – da steht doch tatsächlich (seit Jahren! Ungelesen!)
Chuzpe
von Lily Brett.
Und deshalb sind Empfehlungen so wichtig!

Ruth ist eine recht zwanghafte Frau mittleren Alters, die in New York lebt. Sie liebt Wörter, liebt es, sie hin- und herzuschieben. Deshalb hat sie eine Firma gegründet, in der sie Auftragsbriefe schreibt und Glückwunschkarten mit an-sprechenden Texten zu allen möglichen Gelegenheiten entwirft und vertreibt. Damit ist sie sehr erfolgreich. Auch beim Achten auf ihre Linie ist sie erfolgreich – sie verzichtet auf alles, was gut schmeckt, denn das hat zu viele Kalorien. Sie ist ein Workaholic und ein Kontrollfreak.
Als ihr 87jähriger Vater Edek von Australien nach New York zieht, um ihr näher zu sein, stellt er ihre Firma auf den Kopf. Und wenn er nicht so hinreißend liebenswürdig wäre, ginge er Ruth bald auf den Wecker. Aber sie liebt ihn und läßt ihn gewähren. Tonnen von Papier, Kisten voller Kulis, ein Staubsauger mit Navigationssystem werden geliefert, weil Edek irgendwo Sonderangebote entdeckt hat.
Edek war seit 1945 nicht mehr in Polen. Deshalb macht Ruth mit ihm eine Reise in seine alte Heimat. In einem heruntergekommenen Hotel lernen die beiden Zofia kennen und ihre Freundin Walentyna, zwei Polinnen, die Urlaub machen. Hinter Ruths Rücken fangen Edek (87) und Zofia (69) ein Techtelmechtel an. Ruth ist entsetzt. Denn Zofa ist ziemlich gewöhnlich, hat einen riesigen Busen, zieht sich aufreizend geschmacklos an und hat eindeutige Interessen an ihrem Vater.

Zurück in New York geht Edek immer mehr seine eigenen Wege. Ruth wundert sich zwar darüber, ist aber auch froh, daß er ihr in ihrer Firma nicht mehr alles durcheinanderbringt. Und dann, man ahnt es schon lange, steht Zofia vor der Tür. Im Schlepptau Walentyna. Ruth ist entgeistert. Wie kann ihr Vater nur! Vollends fassungslos ist sie allerdings, als Edek und Zofia ihr erzählen, daß sie ein Restaurant aufmachen wollen. Sie sind überzeugt: Klops braucht der Mensch.
Das kann nicht gutgehen. Findet Ruth. Denn ohne die entsprechenden Connections, ohne einen dicken Geldbeutel, ohne eine aufwendige Werbecampagne kann das nie und nimmer etwas werden. Und dann noch Lower East Side. Da geht "man" doch nicht hin! Aber Ruth unterschätzt Zofia. Zofia mit dem riesengroßen Herzen unter ihrem Atombusen und den immer offenen Armen. Diese Zofia ist nämlich sehr lebenserfahren, klug und zielstrebig – und zusammen mit Edek, der vor Lebensenergie nur so sprüht, nähert sie sich in Windeseile ihrem gemeinsamen Traum. Und dank ihrer unbefangenen Wärme bricht sie auch nach und nach Ruths Panzer aus Zwängen und Konventionen auf (natürlich gegen deren erbitterten Widerstand!).

Ich habe diesen temporeichen, skurrilen und vor allem: witzigen, Roman mit allergrößtem Vergnügen in einem Rutsch gelesen. Und habe dabei oft laut gelacht. Die jüdische Mentalität mit all ihren lustvoll ausgelebten Neurosen wird mit Selbstironie und dem ihr eigenen Mutterwitz so hinreißend dargestellt, daß man sich nur eins wünscht: mehr davon! (Tip: Wem "Chuzpe" gefällt, wird auch Spaß an Thomas Meyers "Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse" haben!)
Chuzpe stammt aus dem Jiddischen und heißt soviel wie "Unverfrorenheit".


  

3 Kommentare:

  1. Ein Beispiel für Chuzpe:
    Im Bankenviertel steht eine Frau und verkauft Brezeln, das Stück für 50 Pfennig. Jeden Tag kommt ein Banker vorbei, gibt ihr 50 Pfennig und geht weiter, ohne eine Brezel zu nehmen. Das geht so über Jahre. Eines Tages wieder dasselbe Ritual: er gibt 50 Pfennig und geht weiter. Da ruft sie ihm nach: Entschuldigen Sie, aber die Brezel kostet jetzt 60 Pfennig.

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  2. Die Beschreibung, wie "Chuzpe" zu dir gekommen bist, gefällt mir gut - dabei bekomme ich Lust, das Buch (nochmal) zu lesen. Wie mir scheint, hast du eines der Rezepte am Ende des Buches für das Klopsefoto genutzt - das ist echter Einsatz!
    Gerade sehe ich, dass die - von New York nach Berlin verlegte - Geschichte verfilmt wurde; zu sehen auf DVD oder am 05.09.2015 im Programm der ARD. Ob der Film wohl mit dem Buch mithalten kann? Oder ich lieber ein Buch von Lily Brett lesen sollte, oder Klopse braten? Dann erfahre ich aber nicht, ob im Film der Spruch kommt: „Ick sitze da un esse Klops …“
    Schwäbische Cousine

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    1. Liebe "Schwäbische Cousine", Du bist eine gute Beobachterin - ich habe in der Tat für das Photo Klopse gebraten...
      Freut mich, wenn Du das Buch nochmal lesen willst! Und: ich werde mir den Film nicht antun, denn das Buch hat mir zu gut gefallen, als daß ich Edek nur noch als Hallervorden sehen möchte...

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