Unter Büchern

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Donnerstag, 12. Februar 2015

Thomas Hettche: Pfaueninsel

Zuerst hatte ich  Probleme mit dem Buch: ich fühlte mich von der Bildung des Autors etwas in die Enge getrieben.
Aber da ich es von einer Freundin geschenkt bekommen hatte, konnte ich es nicht einfach weglegen.
Und das Wunderbare geschah: das Buch belohnte  mich jeden Abend. Von Seite zu Seite mehr.
Es wurde mein Freund. Auf dessen Gespräch mit mir ich zunehmend gespannter wartete.

Marie, die Kleinwüchsige, die Zwergin, kommt mit ihrem Bruder Christian, der auch so ein Däumling ist, auf die Pfaueninsel (in der Havel bei Berlin). Das 19. Jahrhundert hat gerade begonnen. König Wilhelm II läßt nach dem Tod seiner Luise die Pfaueninsel verändern, die bisher ein großer (Nutz-)Garten war. Er läßt Lenné kommen, der Sichtachsen plant nach englischem Vorbild, und Schinkel, der ein Palmenhaus bauen soll. Tiere aus aller Welt werden gehalten. Inmitten dieser ganzen Umwälzungen wird Marie älter, aber nicht größer. Sie liebt ihren Bruder Christian aus der Nähe - und aus der Ferne ihren Ziehbruder Gustav. Leider nimmt es kein gutes Ende mit den dreien.
Marie liebt "ihre" Insel, sie ist ihr Zuhause. Sie fühlt sich geborgen - und weit fort von der Welt da draußen, von der sie nur durch Besucher hört oder aus den vielen Büchern, die sie liest (!), erfährt. Und beschützt. Von ihrem Ziehvater Fintelmann, vom Lehrer, von ihrem Bruder. Aber sie fühlt sich auch oft wie der Löwe aus Afrika, der nächtelang brüllt und mit traurigen  Augen durch seine Gitterstäbe schaut: in einem Käfig.
Ich lerne nicht nur Marie kennen und ihren Mikrokosmos. Ich gehe mit dem Autor über die noch nachtfeuchten Wiesen ans Ufer, außer ihm und mir ist niemand unterwegs. Ich beobachte mit ihm die Pfauen auf der Wiese und folge seinen Gedanken über die radschlagenden Männchen (die das nur tun, wenn ein Weibchen in die Nähe kommt).  Ich erlebe die innere und äußere Veränderung der Insel, ich lerne viel über Pflanzen und Tiere.
Der Autor ist beängstigend klug. Und verfügt über sehr viel Spezialwissen: zum Beispiel weiß er (natürlich!), wie man Hortensien blau macht.  Er philosofiert über die Zeit und unser Verschwinden in ihr. Er mutet mir zu, daß ich mir Gedanken mache über das Sein, über das Leben, über die Vergänglichkeit.

Und ganz am Ende weiß ich: es ist völlig egal, ob in diesem wunderbaren Roman das tatsächliche Leben der Maria Dorothea Strakon erzählt wird - oder ein fiktives. Die Hauptsache ist, daß Hettche diesem Schloßfräulein eine Biographie geschenkt hat. Damit wir sie nicht vergessen,  diese arme Marie mit ihrem gebrochenen Herzen. Diese altmodische, aus der Zeit gefallene Marie, die ihren Wurzeln als Zwergin (darf man das eigentlich überhaupt noch sagen - in Zeiten der politisch ach so korrekten Sprach-Camouflage?) so viel näher war, zeitlebens, als ein groß gewachsener Gustav...


P.S. Der kluge Thomas Hettche, der mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgeht, daß seine Leser über die Geschichte des 19. Jahrhunderts Bescheid wissen, hat mich angeregt, mich etwas mehr mit Geschichte zu befassen.
Allen, die wie ich immer wieder stock(t)en beim Lesen, weil sie zu wenig  wissen über die französische Besetzung des Rheinlands oder Berlins, über die Verwandtschaftsverhältnisse der Wilhelms I, II oder III mit Friedrich dem Großen, über die Industrialisierung - all denen lege ich eine Trouvaille ans Herz:

Ernst H. Gombrich: Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser.

Da wird auf sehr lesbare, knappe und faszinierende Art die Weltgeschichte erzählt. Nicht zu viel,nicht zu wenig, genau das richtige Maß, um zu verstehen. Um Zusammenhänge zu sehen und zu begreifen. Entwicklungen. Keine Faktenhuberei im Klein-Klein der Wissenschaftler, sondern eine neugierig machende Kurz- und Zusammenfassung der Weltgeschichte. Wer will, kann dann ja immer noch vertiefen, dies oder jenes. So ein Buch suchte ich schon lange. Jetzt liegt es griffbereit neben meinem Sessel.







1 Kommentar:

  1. Liebe Cornelia, vielen Dank für Deine ausführliche Besprechung. Nachdem wir letztes Jahr die Pfaueninsel besucht haben, vielleicht ein geeigneter neuer Impuls...

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